70 Jahre Lebenszeit und die Hälfte davon mit homöopathischer Praxis - das ist doch eine Erwähnung und damit auch ein Interview wert!
Ich habe Gudrun Thielmann, meine Mutter und die Praxisinhaberin von AUDE SAPERE, gefragt, wie sie ihren besonderen Geburtstag erlebt hat. Wie immer fällt die Antwort aus ihrem Munde eher unkonventionell aus, mit einer Brise Kritik und Humor gewürzt. Gemäß unseres Mottos: Wagen Sie zu wissen und lesen Sie 'rein!
Übrigens an alle, die mitgemacht haben: Die kleine Überraschung mit den Botschaften von Freunden, Patienten, Familie und Schülern ist sehr gelungen! Ihre Reaktion darauf können Sie in diesem Video sehen und ein kurzes Dankeschön von ihr an alle gibt es hier.
Interview mit Gudrun Thielmann
Gudrun, der 8. Mai ist ein besonderer Tag - nicht nur, dass am 8.5.1945 die Nationalsozialisten offiziell besiegt wurden und wir endlich wieder Demokratie in Deutschland etablieren konnten - nein, heute kannst du auch noch deinen 70. Geburtstag und gleichzeitig das 35jährige Bestehen deiner Praxis feiern. Ich habe Anfang Mai alle Patienten kontaktiert, um sie zu bitten, bei einer Überraschung für dich mitzuwirken. Wie fühlst du dich, jetzt nachdem du die Herzenspost und die Videobotschaften von all den Menschen aus deinem Leben empfangen durftest?
Also, ich war sehr berührt und sehr glücklich und vor allem sehr überrascht! Von den meisten Leuten hört man eher nichts und ich bin selbst zu beschäftigt, um Kontakt zu halten. Als Praxisinhaberhin vergisst man bei so vielen Kontakten auch, mit wem man eigentlich noch mal gerne gesprochen hätte. Weil ich so viele Patienten habe, bin ich abends auch froh, Feierabend zu haben und nicht mehr zuhören zu müssen. Es hat mich daher wirklich sehr freut mich, dass mich die Menschen nicht vergessen haben, die ich eine Zeit lang auf ihrem Lebensweg unterstützen konnte. Ob es mir im Einzelfall immer so gelungen ist, weiß ich natürlich nicht. Aber das Echo war schon toll.
Viele waren sehr dankbar. Erinnerst du dich an das Interview, das wir zu deinem 65. Geburtstag durchführten? Da fragte ich dich, wie du dich jetzt mit 65 fühlst und du antwortest: "Wie 35 - solange ich sitze!" Und wie fühlst du dich nun als 70jährige?
Ich fühl mich eigentlich noch genauso wie vor 5 Jahren. Ich bin vielleicht reizbarer geworden auf der einen Seite, aber auch gelassener auf der anderen. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass mich die letzten zwei Jahre sehr aufgeregt haben. Wir hatten ja die "herrliche C-Zeit" und die hat mich wirklich in Rage gebracht. Damit hatte ich viel zu schaffen. Etwa Winter 2021, das war so der "Höhepunkt", da ging es mir nicht gut, wegen des Gesellschaftswandels und des zwischenmenschlichen Drucks. Diese Erfahrung habe ich ja auch bei meinen Patienten gemacht: Immer wenn sie in einen Stress von außen geraten, dann treten Krankheiten oder Schwächen der Vorfahren in Erscheinung, (wie wir Homöopathen sagen) es wird ein chronisches Miasma aktiviert. Immerhin ist das behandelbar und mittlerweile geht es mir sehr gut.
Auch für eine bessere Selbstfürsorge auf der Arbeit haben wir jetzt eine längere Mittagspause eingeführt, nämlich von 12 bis 15 Uhr.
Ja, grundsätzlich brauche ich mehr Pausen. Das ist eine klare Veränderung zu früher. Ich hätte sie vermutlich früher genau so gebraucht, nur habe ich sie mir nicht gegönnt.
Denkst du schon an Rente?
Was heißt hier Rente?! Solange mein Gehirn noch funktioniert, funktioniert die Gudrun.
Bietest du weiterhin als Dozentin Homöopathie-Kurse an?
Ja, aber ich möchte lieber einzelne Personen unterrichten oder Mini-Gruppen, um mich mehr auf Inhaltliches konzentrieren zu können. An den großen Gruppen hat mich immer gestört, dass der eine
oder andere Schüler dabei scheinbar nicht verstanden hat, was ich vermitteln wollte. Und dass dadurch viele unterwegs sind, die Homöopathie praktizieren, aber keine guten Homöopathen sind.
Ich lege aber Wert darauf! Sie sind vielleicht erfolgreich, aber nur finanziell. Man darf als klassischer - und damit wahrer - Homöopath die Vorgehensweise von Homöopathie und
Schulmedizin nicht verwechseln, weil es dann nicht funktionieren kann. Daher hab ich mich entschieden, nur noch 2, 3 Personen zu unterrichten und das am liebsten vor Ort, analog in Frankfurt, um sie so auszubilden, dass sie wirklich klassisch arbeiten. So kann ich sofort entdecken,
wenn etwas nicht funktioniert und sehr gute Homöopathen ausbilden.
Zwar kann ich auch online etwas anbieten, das trifft aber dann mehr den Allgemeingeschmack und das tut mir nicht gut. Wenn die Leute fragen: "Was macht man denn bei Kopfschmerzen so
homöopathisch?", da könnte ich an die Decke springen, da dreht sich der Hahnemann wie ein Quirl im Sarg!
Zwei Familienmitglieder haben mittlerweile Einzug in die Praxis erhalten, sie behandeln künftig natürlich klassisch homöopathisch. Hatte deine Familie vorher mit Medizin oder Homöopathie zu tun?
Ich freue mich sehr, dass meine Töchter nun Nachfolgerinnen sind. Das ist für die Homöopathie und für meine Patienten - falls ich nicht mehr unterwegs sein sollte - eine schöne
Zukunftsperspektive, dass jemand da ist, der mein Erbe antreten kann. Sarah bietet zusätzlich Osteopathie, das finde ich sehr gut,
weil das die Homöopathie ergänzt und auch, weil die Homöopathie hierzulande leider durch Verschmähung und Belächeln - noch nach Jahrhunderten - auf schwachen Beinen steht. Ich denke,
dass die Menschen, vor allem die Ärzte noch zwei-, dreihundert Jahre brauchen, bis sie das System verstehen. Das homöopathische System ist ein ganz anderes, es baut auf ganz anderen
Grundsätzen auf. Es ist auch ethisch nicht mit Schulmedizin vergleichbar. Ach, selbst die Krankenkassen möchten einfach, dass Geld reinkommt. Und vielen Patienten ist es im Grunde auch
egal, wie sie geheilt werden, sie wollen, dass ihre Beschwerden weg sind - zack zack. Aber ein Mensch, der nach homöopathischen Regeln lebt, hat auch andere ethische
Grundsätze, er lebt anders, er denkt anders, er fühlt anders, sieht die Zusammenhänge aus ganzheitlicher, nachhaltiger Perspektive.
In meiner Familie gab es einige Apotheker, auch einen Homöopathen, der so um die 20er-, 30er-Jahre gewirkt haben muss. Ob als Heilpraktiker oder Arzt, das weiß ich nicht. Jedenfalls hat er der Familie ein (homöopathisches) Buch von Arthur Lutze, eine Erstausgabe, hinterlassen. Das habe ich erhalten, als ich die Heilpraktiker-Ausbildung abgeschlossen habe. Schön wurmzerfressen, aber irgendwie halten die Blätter noch zusammen und es ist ein Erbstück, das zeigt, dass eine Homöopathie-Affinität schon bestand. Den Namen weiß ich leider nicht, jedenfalls ein Verwandter mütterlicherseits. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie als Kind immer wieder Belladonna von ihm bekommen hatte.
Welche medizinischen Bücher hast du dir in dem letzten halben Jahr zu Gemüte geführt?
Im Moment lese ich Constantin Herings "Medizinische Schriften". Aus der Frühzeit der Homöopathie, eine Korrespondenz zwischen den Homöopathen, spannende Erkenntnisse und Heilungsberichte von
Lepra. Ich finde das sehr interessant, ich hab es zwar schon zwei-, dreimal gelesen, aber ab und zu fällt einem doch ein Buch in die Hand und da will man das vertiefen.
Parallel lese ich das "Organon", ist ja klar, und "Die chronischen Krankheiten" von Hahnemann. "Die chronischen Krankheiten" von Allen werden zurzeit im Kurs bearbeitet.
Aktuelle Berichte aus Zeitschriften lese ich nicht mehr, weil es nicht gut für meinen Blutdruck ist. Auch in den alten Zeitschriften war es nicht viel besser, wenn ich von den 50er-, 60er
Jahren spreche: Es ist zu oberflächlich, die Dosierung stimmt hinten und vorne nicht, die Herangehensweise ist nicht homöopathisch wissenschaftlich. Es wird etwas berichtet, aber Schulmedizin
hineingemischt, es ist eher deprimierend. Ich habe eine Zeit damit verbracht, die Berichte durchzuarbeiten, zu analysieren und zu markieren, wo gewaltig etwas fehlt. In den Fällen wird es so
dargestellt, dass der Patient mit 2-3 Arzneien schon geheilt wäre, aber so etwas gibt es praktisch nie und da muss man noch einmal darüber reden, was heißt "geheilt" genau. Tja, irgendwo muss der
Mensch ja anfangen und manche haben auch das Bedürfnis, sich zu veröffentlichen, aber ich bin eigentlich der Meinung, dass die wichtigsten Bücher schon geschrieben sind: Die Klassiker, von denen
bin ich Fan. Bevor man das Moderne liest, sollte man das Alte verstehen. Von Hahnemann angefangen bis Allen, Hering, Kent. Gut finde ich noch die Bücher vom indischen Homöopathen Vijyajakar.
Auch Vithoulkas hat viel für die Homöopathie getan, aber er hat nicht unbedingt Neues geschrieben, er hat das alte Wissen aus den Büchern herausgezogen. Das Prinzip war jedoch immer klar
vorhanden, nur mit unterschiedlichen Begriffen für Neulinge nicht direkt ersichtlich.
Ich gucke jedoch viele moderne Dokumentationen über verschiedene Bereiche: Kosmologie, Paläontologie, Geologie, Archäologie, Biologie - sonst noch etwas mit -gie hinten? Es
interessieren mich diese neuen Erkenntnisse und sie liefern mir tolle Beispiele. Mir wird ja nachgesagt, ich hätte so interessante Beispiele - die ziehe ich daraus. Ich
gucke mir ebenso Eruptionen auf der Sonne an, wie Theorien über geklonte Mammuts, ich kann mir auch eine historische Dokumentation anschauen. Was ich nicht leiden kann, sind kitschige Spielfilme!
Dann lieber Krimis, aber die kniffligen, nicht blutrünstigen, à la Agatha Christie.
Wenn du resümierst, was würdest du für eine Weisheit oder Lehre mit auf den Weg geben?
Benutzt das Hirn zum Hirnen! Ich sag immer das selbe: Selbst denken! Und lasst euch nicht von Pseudowissenschaftlern oder Pseudobehandlern - da kann man auch Pseudo- vor die Politiker setzen
- unterkriegen. Immer weitermachen, dem Ziel treu bleiben.
Andere Meinungen sollte man schon überdenken, immer gemessen an dem, was man selbst für wahr und richtig festgestellt hat. Also wenn ich jetzt festgestellt habe, die Tischplatte ist hart, weil
ich jeden Tag darauf klopfe, da muss jetzt keiner kommen und sagen: "Ne, aber in Wirklichkeit ist die ist nicht hart, das sind alles nur Atome, da kannst du durch greifen." Ja, das kann man, wenn
man selbst ein Atom ist, bin ich aber nicht, ich bin ein Atomhaufen.
Alles gut und schön, man muss mit Verstand arbeiten. Und bloß keine esoterischen Spinnereien verfolgen, davor kann ich echt nur warnen.
In unserer Praxis trennen wir aus eben diesen Gründen die Homöopathie ganz klar von Esoterik, es geht hier nicht um Aura, Spekulation, Pendeln o. Ä., sondern es geht hier um Analyse der Symptome, genaue chronologische Auflistung...
...Mitarbeit der Patienten! Sie müssen sich beteiligen, zeigen, dass sie wirklich geheilt werden wollen und nicht nur ein laues Plauderstündchen haben möchten. Meine Arbeit beruht nicht auf
diplomatischen Schleifchen. Wenn mich jemand fragt: "Wie geht's?", sag ich: "Schlecht.", wenn es mir schlecht geht und "Gut", wenn es mir gut geht. Meine Arbeit ist im Grunde genommen
mathematisch, strukturiert. Wo sind die Symptome, die weiterbringen, was war davor und was war davor, wo war der Auslöser? Meistens ist er genetisch veranlagt und durch akute Eingriffe aktiviert
worden.
Wenn jemand eine chronische Erkrankung hat, heißt das, das ist eine Erkrankung, die immer weiter fortschreitet, das heißt, dass sie von selbst nie - und das muss man sich wirklich
einmeißeln - nie verschwindet, außer wenn sie auf eine andere Ebene wechselt. Also wenn eine Gastritis irgendwann einfach aufhört, muss man schon darauf achten. Es kann sein, dass dadurch
etwas Anderes folgt. Patienten kommen häufig mit Beschwerden und sagen: "Früher hatte ich nur eine Gastritis, heute hab ich..." Oft folgt Alopezia, Leukämie, Gischt, Anämie,
Psoriasis, Osteoporose.Da frage ich: "Wie haben Sie die Gastritis behandelt?" Das ist etwas, was ich meinen Schülern explizit in die Gehirnwindungen einmassiere, sodass sie nach
zwei Jahren Begleitung auch wissen, worauf es ankommt. Ich kann nur sehen, ob der Samen angeht, wenn ich dabei ganz genau betreue.
Fazit: Du machst weiter und du gibst insbesondere die Klassische Homöopathie weiter und bleibst deinem Ziel treu! Und wahrscheinlich wirst du noch 140?
Also, nach oben offen - solange das Gehirn funktioniert. Und sobald es nicht mehr funktioniert, hab ich vor, mich in irgendeinen fernen Wald zu schleichen.
Dann viel Spaß bei deiner Wanderung und danke für dein Wirken und dieses Gespräch!
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Yasmin T. (Donnerstag, 01 Juni 2023 22:40)
Wow, ich hab den Geburtstag leider verpasst, aber bin über den Newsletter daraufgestoßen und freu mich sehr, diesen Einblick hinter die Praxiskulissen zu bekommen, ist schon imponierend. An dieser Stelle nachträglich auch von m ir alles GUTE FRAU THIELMANN und DANKE für Ihre tolle Begleitung meiner Familie!
Brigitte Lamm (Freitag, 14 Juli 2023 05:57)
Ein spannendes Interview von einer tollen Persönlichkeit. Frau Thielmann für mich sind Sie die beste „Hausärztin“!! :-)
Ann-Kathrin (Dienstag, 12 September 2023 17:01)
Berührende Worte, wirklich lesenswert, sie wirken nach und machen nachdenklich wie neugierig.